3. Dezember – „Der Nachbar, der zu viel weiß“

Am dritten Dezember weckte Lina kein Wecker, sondern ein Geräusch.

Ein dumpfes knack, irgendwo im Haus. Dann ein leises knarrr, als würde jemand sehr vorsichtig über eine Treppenstufe schleichen.

Sie riss die Augen auf. Ihr Zimmer lag noch im bläulichen Morgengrau, nicht richtig Tag, aber auch nicht mehr Nacht. Die Heizung gluckerte, draußen prasselte Regen gegen das Fenster. Sie hielt den Atem an und lauschte.

Nichts. Nur das Ticken der alten Uhr im Flur und ihr Herz, das zu laut schlug.

„Alte Häuser machen Geräusche", murmelte sie und rollte sich auf den Rücken. Ihr Magen knurrte. Sie griff nach dem Handy: 6:58 Uhr. Eine Nachricht von Mira: Bus kommt heute früher, bin 7:20 an der Haltestelle 🙂

Lina antwortete: Okay, bin da. Hoffentlich wach. Zombie-Emoji.

Als sie die Zimmertür öffnete, schob sich ihr ein kühler Luftzug entgegen. Der Flur war leer. Aber die vierte Stufe von oben knarzte lauter als die anderen, als sie hinabstieg. Genau so hatte es in der Nacht geklungen.

Sie blieb stehen und drückte mit dem Fuß darauf herum. Knarrr. Knack. Der Ton war hohl, irgendwie anders.

„Unter das, worauf alle treten", flüsterte sie.

Jonas saß schon in der Küche, eine Müslischüssel vor sich, aber der Löffel lag unangerührt darin. Stattdessen beugte er sich über sein Notizbuch. Oben auf der Seite stand: Adventskalender-Analyse: Tag 3.

„Die vierte Stufe von oben klingt anders", sagte Lina ohne Begrüßung.

Jonas schnappte den Kopf hoch. „Was?"

„Ich hab's vorhin gehört. In der Nacht auch. Sie klingt... hohl."

Jonas' Augen leuchteten. „Wenn der Hinweis von gestern wirklich ‚unter dem, worauf alle treten' bedeutet, und eine Stufe hohl klingt..." Er tippte mit dem Stift auf seine Skizze des Hauses. „Das ist statistisch gesehen ein Hinweis."

„Statistisch gesehen bist du komisch", sagte Lina, aber sie stieß mit dem Fuß gegen seine Socke unter dem Tisch. Kein richtiger Tritt, eher ein „Ich-bekomme-dich-schon-mit"-Rempler.

Ihr Vater kam mit zerzausten Haaren herein. „Morgen. Die Heizung macht komische Geräusche."

„Ha!", rief Jonas. „Noch ein Verdächtiger für ‚unter dem, worauf alle treten'!"

Ihre Mutter steckte den Kopf zur Tür herein, schon halb in der Jacke. „Frühe Konferenz heute. Seid ihr mit dem Bus klar?"

„Ja", sagte Lina.

„Und Leute, wirklich: Kein Boden rausreißen, nichts aufhebeln, bevor Papa und ich das gesehen haben, okay?"

„Team-Treppeninspektion heute Abend", versprach Jonas. „Nach dem Adventskalender."

Der Bus war nass und müde, genau wie alle darin. Lina und Mira setzten sich auf ihren Stammplatz.

„Und?", fragte Mira und zog die Mütze tiefer ins Gesicht. „Spukt's schon?"

Lina zögerte. „Wir haben im Kalender einen Zettel gefunden. Über etwas, das unter dem liegt, worauf alle treten. Und einen alten Schlüssel."

„Einen echten?"

„Ja. Und die Treppe macht Geräusche, als würde sie uns was sagen wollen."

Mira nickte, als wäre das das Normalste der Welt. „Klingt nach ‚unter der dritten Stufe ist eine geheime Truhe mit der Wahrheit über deine Ahnen begraben'."

„Vierte", sagte Lina automatisch.

„Du wirst mir alles erzählen, ja?"

Lina spürte einen seltsamen Impuls, dieses Geheimnis noch ein bisschen für sich zu behalten. Nicht aus Misstrauen, sondern weil es sich anfühlte wie etwas Zartes, das noch nicht bereit war, geteilt zu werden.

„Mal sehen", murmelte sie. „Wenn ich nicht vorher von der Treppe verschluckt werde."

Nach der Schule nieselte es wieder. Als Lina und Jonas um die Ecke ihrer Straße bogen, sahen sie Herrn Gruber auf seinem Gehweg. Er fegte Laub zusammen, seine graue Katze thronte auf der Mauer.

„Na", begrüßte er sie. „Wie war's in der neuen Anstalt?"

„Mittel", sagte Lina.

„Interessant", sagte Jonas gleichzeitig.

„Die Wahrheit liegt meistens irgendwo dazwischen." Die Katze sprang von der Mauer und strich Jonas um die Beine. „Das ist Krümel. Sie mag Leute, die nach Essen aussehen."

„Das erklärt alles", sagte Jonas und bückte sich zum Streicheln.

Lina räusperte sich. „Herr Gruber? Gestern... als Sie den Kalender gesehen haben..."

„Hab ich alt ausgesehen." Er lehnte den Besen an die Mauer. „Das passiert, wenn alte Sachen wieder auftauchen."

„Sie sagten, Sie hätten ihn schon mal gesehen", drängte Jonas.

Herr Gruber sah kurz zu ihrem Haus hinüber. Die Fenster spiegelten den grauen Himmel. „Ich hab vieles in diesem Haus schon gesehen. Mehr, als vielleicht gut gewesen wäre."

Linas Nackenhaare stellten sich auf. „Wem hat der Kalender gehört? Bevor wir ihn gefunden haben?"

Herr Gruber nickte langsam, als hätte er genau darauf gewartet. „Euch."

„Uns?", wiederholte Jonas. „Aber wir sind doch gerade erst..."

„Eurer Familie", unterbrach er. „Den Winterbergs. Das Haus gehört euch seit deutlich länger, als ihr wisst. Es war nur zwischendurch mal... andere Wege gegangen. Wie Menschen auch."

Lina spürte, wie sich etwas in ihrem Bauch zusammenzog. „Was meinen Sie damit?"

„Dein Großvater und dessen Eltern – die waren Winterbergs. Das Haus hat ihnen gehört, lange bevor es euch wiedergefunden hat."

Wiedergefunden?", wiederholte Lina. „Das klingt, als wäre es ein..."

„Häuser sind nicht so treu wie Hunde", sagte Herr Gruber leise. „Aber manche hängen an bestimmten Namen. Und an bestimmten Geschichten."

Jonas schüttelte den Kopf. „Unsere Eltern haben nie gesagt, dass das ein Familienhaus ist."

„Vielleicht wissen sie es nicht. Oder sie wissen nicht, wie sie darüber reden sollen." In seinen Augen lag etwas Weiches, fast Trauriges. „Der Kalender war der Stolz deiner Urgroßmutter. Sie wollte, dass ihre Kinder sich erinnern. An das, was wichtig war. Jedes Jahr ein bisschen mehr. Aber irgendwann..." Er brach ab.

„Irgendwann was?", flüsterte Lina.

Er sah weg, über den Zaun. „Irgendwann sind die Türen zugeblieben. Manche Geschichten wurden nicht mehr erzählt. Manche Briefe nie abgeschickt."

Das Wort Briefe klang in Lina nach, tiefer als es sollte.

„Wenn ihr klug seid", sagte Herr Gruber und hob den Besen wieder auf, „öffnet ihr die Türen miteinander. Nicht jeder für sich."

„Das machen wir", sagte Jonas sofort. „Wir sind ein Team."

„Team-chaotische-Winterbergs", bestätigte Lina leise.

„Apropos", mischte sich eine neue Stimme ein. Ihre Mutter stand am Gartentor mit einer Einkaufstasche. „Was besprecht ihr hier für Familiengeschichten ohne mich?"

„Alte Geschichten", winkte Herr Gruber ab. „Man wird nostalgisch, wenn neue Leute nebenan einziehen. Wenn Sie übrigens Fragen zur Heizung haben – ich kenne alle ihre Macken."

„Das Angebot nehme ich gern an", sagte ihre Mutter lächelnd. „Und falls Sie Lust haben: Wir wollen heute Abend nach dem Adventskalender die Treppe inspizieren. Es gibt Tee und Spekulatius-Reste."

Herr Gruber schnaubte leise. „Spekulatius sind ein starkes Argument."

Der Abend kam schnell. Kurz nach sieben versammelte sich die Familie wieder im Wohnzimmer. Zwei Kerzen warfen warmes Licht über den Adventskalender.

„Willkommen zur dritten Sitzung des Adventskomitees Winterberg", sagte ihr Vater theatralisch. „Anwesend: Chaos, noch mehr Chaos, eine leicht überforderte Mutter und ein Haus mit eigenen Plänen."

„Vergiss die Treppe nicht", murmelte Jonas.

Er hatte sein Notizbuch griffbereit. Lina setzte sich ihm gegenüber, die Hände um ihre Teetasse geschlossen.

Jonas nahm den Schlüssel mit der kleinen 3 und probierte. Drei, vier, sechs, sieben, acht – nichts. Dann Türchen neun.

Klack.

„Ha! Drei geht zu neun. Ich wusste es."

„Du hast sechs Versuche gebraucht", erinnerte ihn Lina.

„Empirische Forschung."

Er öffnete das Türchen und zog ein kleines Holzstück heraus. Es war eine Leiste, glatt geschliffen, mit eingebrannten Linien – wie stilisierte Treppenstufen. An der vierten Stufe war ein Kreuzchen eingraviert.

Jonas holte noch einen gefalteten Zettel hervor und las: „‚Um das zu finden, was tief verborgen ist, musst du hinhören. Die Stufe, die anders klingt, zeigt dir, wo du anfangen musst.'"

Linas Nacken prickelte. „Die vierte."

„Welche vierte?", fragte ihre Mutter.

„Die vierte Stufe von oben. Die klingt hohl."

Jonas' Augen leuchteten. „Gestern ‚drunter', heute Treppen-Symbolik. Das ist ein fortlaufendes Rätsel!"

Ihre Mutter seufzte, aber ihre Augen funkelten. „Okay. Aber langsam. Keine Gewaltaktionen."

Sie versammelten sich im Flur. Die Treppe lag im Halbdunkel, nur die Flurlampe warf gelbliche Lichtinseln auf die Stufen.

Jonas stampfte auf jede Stufe. Die vierte gab ein tieferes, dumpferes tonk von sich.

„Hohl", bestätigte ihr Vater und klopfte mit den Knöcheln darauf. „Mehr Luft drunter."

Er fuhr mit den Fingern am Rand entlang. „Hier ist eine Aussparung."

Ihre Mutter holte einen flachen Schraubendreher. Vorsichtig setzte sie ihn an und hob leicht an.

Die Stufe bewegte sich.

Einen Millimeter. Genug, um einen hauchdünnen Schatten sichtbar zu machen.

„Wir machen das zu zweit", sagte ihr Vater. „Eine Person links, eine rechts."

Lina tauschte mit ihm die Position. Jonas leuchtete mit dem Handy.

„Auf drei. Eins... zwei... drei."

Sie hoben an. Die Stufe löste sich mit einem zähen Krrrk. Staub wirbelte auf, ein Geruch nach altem Holz und etwas Metallischem stieg ihnen in die Nase.

Unter der Stufe war ein flaches Fach. Und darin: eine Kiste aus dunklem Holz, fast so breit wie die Stufe. In der Mitte ein kleines Metallschloss.

„Oh", flüsterte Jonas. „Das ist besser als Weihnachten."

„Das ist Weihnachten", sagte ihr Vater.

Sie hoben die Kiste vorsichtig heraus – überraschend schwer – und stellten sie oben auf dem Flur ab.

Das Schlüsselloch sah vertraut aus.

„Der alte Schlüssel", sagte Lina. „Der von gestern."

Ihre Mutter holte ihn aus der Keramikschale. „Langsam", sagte sie. „Und egal, was drin ist: Wir entscheiden gemeinsam."

Lina kniete sich vor die Kiste. Das Holz fühlte sich glatt und trocken an. Sie setzte den Schlüssel an – er glitt erstaunlich leicht ins Schloss, als hätte er dort immer hingehört.

„Bereit?", fragte sie leise.

„Nein", sagte Jonas. „Ja."

Ihr Vater legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Mach."

Lina atmete tief durch. Dann drehte sie den Schlüssel.

Klick.

Das Schloss sprang auf. Die Flurlampe flackerte einmal kurz, die Heizung knarrte irgendwo tief im Haus.

Lina legte den Schlüssel zur Seite. Ihre Finger lagen auf dem Kistendeckel. Die Luft fühlte sich dichter an.

„Eins", murmelte Jonas. „Zwei..."

„Drei", flüsterte Lina und hob den Deckel an.

Ein Geruch stieg ihr entgegen – staubig, nach Tinte, nach Papier. Wie die Luft in einem Antiquariat. Sie sah Schatten von Papierstapeln, eine Ecke von etwas, das wie Stoff aussah, eine Schnur.

„Oh", hauchte ihre Mutter.

Doch bevor Lina wirklich erkennen konnte, was in der Kiste lag, klingelte irgendwo im Haus ein Handy. Schrill.

Alle zuckten zusammen.

„Meine Schule", stöhnte ihre Mutter. „Ich musste erreichbar sein. Tut mir leid."

Lina ließ den Deckel nicht los. Aber sie spürte, wie sich eine seltsame Pause in ihr ausbreitete. Als hätte jemand auf eine unsichtbare Fernbedienung gedrückt.

„Wir machen gleich weiter", sagte ihr Vater leise. „Versprochen."

Jonas beugte sich vor. „Ich kann schon was sehen..."

Lina schloss den Deckel behutsam wieder. Es war, als würde sie eine Tür einen Spalt anlehnen, um nicht gleich überflutet zu werden von dem, was dahinter lag.

Das Klicken des Deckels klang leiser als das Öffnen des Schlosses. Aber endgültig.

Sie legte die Hand flach auf das Holz. Es war warm von ihren Fingern.

„Morgen", sagte sie leise. „Morgen schauen wir richtig hin."

Und tief in ihr wusste sie: Was in dieser Kiste lag, würde nicht nur die Geschichte des Hauses verändern.

Sondern auch ihre eigene.

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