2. Dezember – „Die falsche Tür“

Der Wecker auf Linas Handy klang, als würde jemand mit einem Löffel gegen einen Blecheimer schlagen. Sie tastete im Halbschlaf danach, stieß erst gegen einen Umzugskarton, dann gegen die Wand, und schließlich fand sie das Gerät unter ihrem Kopfkissen. Das Display leuchtete ihr grell ins Gesicht. 6:45 Uhr. Akku bei drei Prozent.

„Morgens schon passiv-aggressiv", murmelte sie und drückte den Alarm weg.

Einen Moment blieb sie liegen und hörte dem neuen Haus zu. Es machte andere Geräusche als die alte Wohnung – kein Aufzug, der summte, keine Nachbarn, die über ihnen die Spülmaschine ausräumten. Stattdessen knackten irgendwo Balken, Heizungsrohre gluckerten, und aus der Ferne kam das gedämpfte Ticken einer alten Uhr im Flur.

Und unter all dem tauchte das Bild des Adventskalenders vor ihrem inneren Auge auf. Die bemalte Stadt, das Türchen mit der Fünf, die sich als erste geöffnet hatte. Der Schlüssel. Das Foto von der fremden Familie vor ihrem Haus.

„Für unsere Kinder, damit sie sich erinnern, was wirklich zählt."

Lina starrte zur Zimmerdecke. Was sollte das überhaupt heißen? Und wieso fühlte es sich an, als hätte sie gestern ein Kapitel in einem Buch aufgeschlagen, das jemand anderes angefangen und nie zu Ende geschrieben hatte?

Ihr Handy vibrierte leise neben ihr. Eine neue Nachricht. Sie griff danach, bevor der Akku endgültig den Geist aufgab. In der Klassengruppe ihrer alten Schule blinkten mehrere ungelesene Nachrichten. Jemand hatte ein Selfie im Weihnachtsmarktlicht geschickt, dazu ein „Gestern war's so nice, wir müssen das an jedem Adventswochenende machen 😍". Darunter eine Welle von Kommentaren, Herzen, Flammen-Emojis.

Lina starrte auf das Bild, auf die vertrauten Gesichter, die dicht gedrängt vor einer Lichterkette standen. Es war, als würde jemand ein Foto von einem anderen Leben posten, in dem sie vor zwei Wochen noch mittendrinsteckte.

Bevor das vertraute Ziehen in der Brust zu stark werden konnte, poppte eine weitere Benachrichtigung auf: „Akku schwach. 1 %".

„Das passt ja", murmelte sie und legte das Handy beiseite.

Sie schälte sich aus der Decke, stellte die Füße auf den kalten Boden und fröstelte. Ihr Blick fiel auf die halboffenen Kartons, die gestern Abend irgendwo zwischen „Wir räumen jetzt noch ein bisschen" und „Ich kann meine Beine nicht mehr fühlen" stehengeblieben waren. Auf einem stand „SCHOOL STUFF", auf einem anderen „Klamotten (irgendwie)".

„Neuer Tag, neues Chaos", seufzte sie und suchte in einem Karton nach einer halbwegs sauberen Jeans.

Die Küche fühlte sich an wie eine Mischung aus Lagerhalle und Campingplatz. Auf der Arbeitsplatte standen nebeneinander: ein Toaster, ein Wasserkocher, drei Gläser, eine offene Cornflakespackung, eine leere Cornflakespackung und eine Kiste, auf der „Töpfe" stand, aber definitiv keine Töpfe enthielt.

Jonas saß auf einem Hocker und löffelte Müsli direkt aus einer Tupperdose. Er hatte schon Jeans und Hoodie an, aber seine Haare standen in alle Richtungen.

„Du siehst aus, als hättest du gegen einen Föhn verloren", sagte Lina und griff sich eine Scheibe Toast.

„Das ist kreative Statik", sagte Jonas. „Wenn ich mich schnell genug bewege, ist das mein Markenzeichen."

Ihr Vater stand am Kühlschrank und starrte in das fast leere Innere, als würde er auf eine Eingebung warten. „Gibt's hier irgendwo Milch, die kein biologisches Experiment mehr ist?"

„Hinten links", sagte ihre Mutter, die am Küchentisch saß und versuchte, gleichzeitig auf dem Laptop ihre Mails zu checken und ein Formular der neuen Schule zu unterschreiben. „Und bitte lass meinen Namen darauf, ja? Gestern hast du aus Versehen ‚Winterbärt' geschrieben."

„Das war ein künstlerischer Ausrutscher", sagte er und fischte die Milch heraus. „Also, ihr beiden. Großer Tag heute. Neue Schule, neue Lehrkräfte, neue Menschen."

„Überleben wäre schon ein Erfolg", murmelte Lina.

Ihre Mutter klappte den Laptop zu. Sie sah müde aus, aber entschlossen. „Heute Nachmittag bin ich wahrscheinlich etwas länger in der Schule, wir haben eine Besprechung. Aber Papa ist im Homeoffice. Also, wenn nachher irgendwas ist, ruft einfach an."

„Sobald mein Handy nicht mehr tot ist", murmelte Lina.

Ihre Mutter nickte und sah dann in Richtung Wohnzimmer, wo der Adventskalender auf dem Couchtisch stand. Von hier aus konnte man nur den oberen Rand sehen, aber Lina wusste genau, wie der gemalte Kirchturm aussah.

„Habt ihr gestern noch darüber nachgedacht?", fragte ihre Mutter. „Über den Kalender, meine ich."

„Klar", sagte Jonas sofort. „Ich habe Theorien. Viele Theorien. Einige davon beinhalten Zeitsprünge."

„Natürlich tun sie das", sagte Lina.

Ihr Vater nahm sich eine Tasse Kaffee. „Ich hab nur eine Theorie, und die lautet: Der Nachbar weiß mehr, als er sagt."

„Stimmt", sagte ihre Mutter. „Was hat er noch mal genau gesagt?"

Ihr Vater setzte seine „alt-herrische Stimme" auf: „Also habt ihr ihn gefunden. Und dann dieses Ding von wegen ‚nicht wieder so still wie die letzten Jahre'."

Jonas kaute nachdenklich. „Vielleicht ist er in Wirklichkeit ein Hüter von magischen Artefakten und hat schon seit Jahren darauf gewartet, dass eine würdige Familie in dieses Haus zieht."

„In dieser Familie", sagte Lina und zeigte abwechselnd auf alle, „gibt es höchstens würdige Chaos-Produzenten."

Ihre Mutter schob ihre Tasse beiseite. „Wie wäre es, wenn wir heute Nachmittag – wenn ihr aus der Schule zurück seid – kurz rübergehen und uns vorstellen? Das ist sowieso höflich. Und wir können ihn ja nebenbei fragen, ob er mehr über den Kalender weiß."

Lina verzog das Gesicht. „Bitte nicht so: ‚Hallo, wir sind die neuen Nachbarn, wissen Sie zufällig, was es mit unserem gruseligen Dachbodenadventskalender auf sich hat?'"

„Keine Sorge", sagte ihr Vater. „Ich formuliere das viel geschickter."

Der Schulbus roch wie jeder Schulbus auf der Welt: eine Mischung aus nassen Jacken, Deo, Kaugummi und leichtem Chaos. Lina stand zuerst da und wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte. Sie erkannte niemanden. Alle Plätze wirkten, als wären sie unsichtbar reserviert.

Sie blieb in der Nähe der Tür stehen, bis der Busfahrer mürrisch „Weiter durchgehen!" rief. Also schob sie sich durch die schmalen Reihen, machte einen Schritt zur Seite, um einer Jungsgruppe auszuweichen – und stieß dabei mit jemandem zusammen, der gerade seinen Rucksack auf den Sitz wuchtete.

„Oh, sorry!", rief das Mädchen vor ihr. Sie hatte dunkle, lockige Haare und eine Mütze mit einer winzigen Schneeflocke hinten drauf.

„Schon okay", murmelte Lina und wollte weiter, aber das Mädchen schob ihren Rucksack zur Seite.

„Willst du hier sitzen?", fragte sie.

„Ähm… gern", sagte Lina, überrascht.

Sie ließ sich neben sie in den Doppelsitz fallen. Das Mädchen griff nach einer Kopfhörerschnur, ließ sie aber wieder sinken.

„Du bist die Neue, oder? Winter… äh…?"

„Winterberg", sagte Lina. „Ja."

„Ich bin Mira", sagte das Mädchen. „Ist das das alte Haus am Ende der Lindenstraße?"

„Das mit dem knarzenden Zaun und dem mutmaßlichen Dachbodenmonster, ja", sagte Lina.

Mira grinste. „Viele finden das Haus cool. Also, als wir kleiner waren, haben wir uns Geschichten darüber erzählt. Dass es darin spukt und so."

„Perfekt", sagte Lina trocken. „Genau das wollte ich hören."

Mira lachte leise. „Aber echt, es ist hübsch. Ich mag alte Häuser. Die haben… keine Ahnung. Geschichte."

„Und schlechte Heizungen", sagte Lina. „Aber ja. Geschichte hat es offenbar."

Sie dachte an das Foto mit der fremden Familie. Sollte sie irgendwem davon erzählen? Wenn sie jetzt plötzlich mit „Da wohnt bestimmt ein hundertjähriges Adventskalender-Geheimnis" anfing, würde sie garantiert sofort als Freak abgestempelt.

Also schwieg sie und ließ sich stattdessen von Mira erklären, wie man im neuen Schulgebäude am schnellsten von Mathe zu Englisch kam.

Der Schulvormittag zog sich zäh wie kalter Kaugummi. Im Klassenraum herrschte dieses sonderbare Gleichgewicht: neugierige Blicke, die so taten, als seien sie nicht neugierig, und Flüstern, das abrupt abbrach, wenn sie sich umdrehte.

Die Lehrerin hatte sie vorne vorgestellt, Lina hatte „Hi" gesagt, einige hatten zurückgenickt. Fertig. Kein Donner, keine Blitze, keine spontanen Freundschaften.

In der ersten großen Pause stand sie etwas verloren am Rand des Hofes, neben einem Baum, der halbherzig mit einer Lichterkette dekoriert war. Ihr alter Schulhof war größer gewesen, lauter, vertrauter. Hier wirkte alles, als würde es ihr ins Ohr flüstern: „Du gehörst hier noch nicht dazu."

Mira tauchte neben ihr auf, zwei Pappbecher mit Kakao in der Hand. „Ich hatte eine Eingebung", sagte sie. „Neuer-Schüler-Kakao."

„Du musst nicht—", begann Lina, aber Mira drückte ihr einen Becher in die Hand.

„Ich weiß. Ich will", sagte sie. „Außerdem, wenn ich dir Kakao gebe, erzählst du mir vielleicht, ob es in deinem Haus wirklich spukt."

„Bestechung funktioniert bei mir nicht", sagte Lina und nahm einen Schluck. Er war viel zu heiß, aber irgendwie vertrauenerweckend.

Sie standen eine Weile schweigend da und beobachteten, wie ein paar Jungs versuchten, einen Schneeball aus dem matschigen Rest Schnee vom Wochenende zu formen. Es klappte mäßig.

„Vermisst du deine alte Schule?", fragte Mira schließlich.

Lina zuckte mit einer Schulter. „Ja. Nein. Doch. Keine Ahnung."

„Das ist eine sehr präzise Antwort."

„Ich hab dort halt meine Leute", sagte Lina. „Oder hatte. Jetzt posten sie Fotos von Dingen, bei denen ich nicht mehr dabei bin. Fühlt sich an, als wäre irgendwo eine Tür zugefallen und ich steh auf der falschen Seite."

Kaum hatte sie es gesagt, musste sie an den Adventskalender denken. An die Tür mit der Fünf, die sich als erste geöffnet hatte.

„Vielleicht", sagte Mira nachdenklich, „führt die falsche Tür ja manchmal in den richtigen Raum."

Lina sah sie an. „Wow. Deep."

Mira grinste. „Oder einfach Quatsch. Meine Mutter sagt immer so Sachen."

Der Rest des Vormittags verging mit Mathe (zu einfach, um abzulenken), Deutsch (zu viele Arbeitsblätter) und einem Musiklehrer, der begeistert von Adventsliedern sprach. Lina schrieb in ihr Heft winzige Schlüssel und Türen in den Rand, bis die Stunde vorbei war.

Jonas' Tag sah anders aus.

„Also", sagte der Klassenlehrer und klopfte mit dem Stift gegen das Whiteboard. „Das ist Jonas Winterberg. Frisch importiert. Er mag offenbar…" Er sah auf das Formular in seiner Hand. „…Physik, Computersachen und Rätsel."

Ein paar Jungs kicherten.

Jonas stand aufrecht vor der Klasse. „Ich mag auch Pizza", sagte er. „Falls das für die Integration relevant ist."

Ein paar lachten, einer rief: „Wichtigste Info!" und Jonas ließ sich wieder auf seinen Platz sinken, innerlich ein kleines bisschen erleichtert.

In der Pause stellte sich ein Junge mit Sommersprossen und einer Mütze verkehrt herum bei ihm an den Tisch. „Hey", sagte er. „Jonas, oder? Ich bin Noah."

„Hi", sagte Jonas.

„Du magst Rätsel?", fragte Noah.

„Kommt auf die Rätsel an", sagte Jonas. „Magst du Tests in Mathe? Dann sage ich nein."

Noah grinste. „Nein, ich meinte so Escape Room und so. Ich war da neulich mit ein paar Freunden. War ganz nice."

„Escape Rooms sind super", sagte Jonas. „Wenn sie gut gemacht sind. Nicht, wenn man einen Schlüssel suchen muss, der offensichtlich unters Kissen gelegt wurde, weil dem Spieleentwickler nichts Besseres eingefallen ist."

Noah lachte. „Boah, du bist streng."

Jonas zögerte kurz. Dann sagte er: „Wir haben gestern was ziemlich Cooles gefunden. Zu Hause. Einen alten Adventskalender. Mit echten Schlüsseln."

In seinem Kopf blitzte sofort ein Bild von dem vergilbten Foto auf, von der fremden Familie, von der merkwürdigen Aufschrift. Er hätte am liebsten alles in einem Schwall erzählt. Aber irgendwo in seinem Hinterkopf hörte er Linas Stimme: „Wenn du Leuten von unserem Dachbödending erzählst, halten die dich für komplett durch."

Also fügte er schnell hinzu: „Ist wahrscheinlich nur so ein Nostalgie-Dings. Aber die Türen sind alle verschlossen, und die Schlüssel passen nicht zu den Zahlen. Ist irgendwie… wie ein Rätsel."

Noah hob interessiert die Augenbrauen. „Klingt besser als mein Schokokalender. Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich bin Experte im Finden von Schlüsseln, die niemand findet."

Jonas grinste. „Deal."

Nach der Schule nieselte es. Kein richtiger Regen, mehr so ein Versuch von Wetter, nervig zu sein. Lina stieg aus dem Bus und zog die Kapuze ihres Parkas tiefer ins Gesicht.

Vor ihr erstreckte sich die Lindenstraße – eine Reihe alter Häuser, einige frisch gestrichen, andere mit bröckelndem Putz. Am Ende, leicht zurückgesetzt, stand ihres. Das Haus Winterberg.

Im Garten nebenan sah sie ihn: Herrn Gruber. Er stand mit einem karierten Schal um den Hals in seinem Vorgarten, eine Gießkanne in der Hand, obwohl es regnete. Neben ihm saß eine dicke graue Katze auf dem Mauerrand und starrte Lina mit gelben Augen an, als würde sie sie bewerten.

Herr Gruber war größer, als sie erwartet hatte, wenn auch gebeugt. Er trug eine dunkle Mütze, aus der graue Haare hervorlugten, und eine Brille mit schmalem Rahmen. Seine Gesichtszüge waren scharf, aber nicht unfreundlich – eher so, als würde er sehr genau hinsehen.

„Na", sagte er, als sie näher kam. Seine Stimme war rau. „Schultag überlebt?"

Lina blieb einen Moment unsicher am Zaun stehen. „Ja", sagte sie. „Irgendwie."

„Dann ist es schon besser gelaufen als bei manchen", meinte er. Die Katze strich um seine Beine. „Du bist die Ältere, hm? Lina, stimmt's?"

Sie blinzelte. „Woher wissen Sie das?"

„Dein Vater hat's gestern erwähnt", sagte er. „Er redet gern. Viel. Man muss nur zuhören."

Lina musste unwillkürlich grinsen. „Stimmt."

Sie zögerte. Dann stahl sich das Thema aus ihrem Mund, bevor sie entscheiden konnte, ob es eine gute Idee war.

„Gestern, als Sie da waren… Der Kalender im Wohnzimmer. Sie kannten ihn, oder?"

Sein Blick glitt kurz an ihr vorbei, hinüber zum Fenster ihres Hauses, hinter dem der Adventskalender auf dem Couchtisch stand.

„Gekannt ist ein großes Wort", sagte er langsam. „Sagen wir, ich habe ihn schon mal gesehen."

„Bei den Leuten, die vor uns in dem Haus gewohnt haben?", fragte Lina. „Hatte der Kalender was mit denen zu tun?"

„Der Kalender hatte mit vielen zu tun", sagte er und goss etwas Wasser in einen Blumentopf, in dem nur noch trockene Stängel standen. „Mit Leuten, die hier gelebt haben, bevor du geboren wurdest. Mit Leuten, die gedacht haben, sie hätten alle Zeit der Welt."

Lina spürte, wie es wieder in ihr kribbelte. „Und was ist passiert?"

Herr Gruber sah sie an. Seine Augen wirkten plötzlich sehr wach. „Das ist nichts, was man zwischen Haustür und Regen erzählt", sagte er. „Manches braucht Zeit."

Die Katze miaute, als würde sie zustimmen.

„Heutzutage", fuhr er fort, „wollen alle immer die richtige Tür beim ersten Versuch. Keiner will mehr anklopfen und merken, dass er sich vertan hat."

Lina dachte an die Fünf, die als erste aufgegangen war. An die Eins, die noch zu war.

„Manchmal bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als durch die falsche Tür zu gehen", murmelte sie.

Herr Gruber nickte langsam. „Wenn ihr den Kalender benutzt…" Er hielt inne. „Macht es gemeinsam. Und lasst euch nicht hetzen."

„Wie… meinen Sie das?", fragte Lina.

Er zuckte mit einer Schulter, als hätte er nichts Besonderes gesagt. „Ist nur ein Kalender", meinte er dann. „Mehr nicht."

Das klang so, als würde jemand „Ist nur ein Vulkan" sagen.

„Ich muss rein", sagte Lina schnell. „Hausaufgaben. Und so."

„Und so", wiederholte er. „Na dann. Grüß das Haus von mir."

Sie nickte verwirrt, schloss die Gartentür auf und ging zum eigenen Haus. Dabei hatte sie das seltsame Gefühl, dass sie etwas Wichtiges hätte fragen sollen, es ihr aber durch die Finger gerutscht war wie Wasser.

Abends war das Wohnzimmer etwas weniger chaotisch. Die Couch hatte inzwischen alle ihre Beine, der Fernseher stand an seinem endgültigen Platz, und ein paar Kartons waren verschwunden.

Der Adventskalender war gleich geblieben. Er stand auf dem Couchtisch, als wäre er schon immer dort gewesen. Im Licht der Stehlampe wirkten die gemalten Fenster, als glühten sie von innen.

„So", sagte ihr Vater und stellte eine Kanne Tee daneben. „Zweiter Abend, zweites Türchen."

„Zweite Methode", ergänzte Jonas und hielt ein Notizbuch hoch. „Ich habe beschlossen, das wissenschaftlich anzugehen."

„Natürlich hast du das", sagte Lina.

Jonas setzte sich im Schneidersitz hin, zog einen Stift aus der Hosentasche und blätterte auf eine leere Seite. Oben stand schon: „Adventskalender-Analyse".

„Gestern", sagte er in übertrieben dozierendem Ton, „haben wir festgestellt, dass Schlüssel Nummer eins nicht zu Tür Nummer eins passt, wohl aber zu Tür Nummer fünf. Das bedeutet, die Nummern folgen offensichtlich einem anderen System. Heute werden wir herausfinden—"

„—ob uns dieses System verarscht", warf Lina ein.

„…ob die Schlüssel zufällig verteilt sind oder ob eine Logik dahinter steckt", korrigierte Jonas. „Wir beginnen mit Schlüssel zwei."

Er öffnete das Kästchen, in dem die Reihe der kleinen Schlüssel lag. Die samtartige Einlage war leicht eingedrückt, als hätte schon vor langer Zeit jemand oft nach ihnen gegriffen.

Jonas nahm den Schlüssel mit der 2 und ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger rotieren.

„Heute ist der zweite Dezember", sagte ihre Mutter. „Vielleicht passt er diesmal zur Zwei."

„Das wäre enttäuschend trivial", sagte Jonas, aber er setzte den Schlüssel brav an das Schloss von Türchen Nummer zwei.

Der Schlüssel glitt nicht einmal halb hinein.

Jonas drückte etwas fester, aber er stieß auf Widerstand. „Nope", murmelte er. „Ist definitiv zu breit. Oder der Zylinder ist anders."

„Versuch mal die Eins", sagte ihr Vater.

Jonas schob den Schlüssel zur Eins. Das Schloss knirschte kurz, dann machte es ein leises Klick.

„Ha!", rief Jonas triumphierend. „Er passt!"

Lina spürte, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte.

„Also", sagte ihr Vater. „Theorie: Eins gehört zu Fünf, Zwei gehört zu Eins. Was sagt uns das über das Universum?"

„Dass es chaotisch ist", sagte Lina.

„Dass irgendwer das mit Absicht konfus gemacht hat", murmelte Jonas. „Aber solange jede Zahl überhaupt zu einer Tür passt, ist mir die Reihenfolge fast egal."

Er atmete einmal tief durch – als würde er eine Prüfung schreiben – und drehte den Schlüssel.

Wieder dieses zarte Klick, die Tür sprang einen Spalt auf.

„Moment", sagte ihre Mutter. „Lasst uns kurz…" Sie sah Jonas an. „Gestern haben wir Dinge herausgenommen, ohne wirklich darüber nachzudenken, dass andere Leute vielleicht wichtige Erinnerungen hineingelegt haben. Heute nehmen wir uns kurz Zeit, ja?"

Jonas' Hand zuckte, aber er nickte. „Okay", murmelte er.

Lina schluckte. Irgendetwas an der Art, wie ihre Mutter das gesagt hatte, traf sie. Erinnerungen. Ihr eigenes halbes Leben war noch in Kartons gepackt, und trotzdem fühlte sich alles schon so weit weg an.

„Na gut", sagte ihre Mutter nach einem Atemzug. „Jetzt."

Jonas zog das Türchen vorsichtig auf.

Diesmal lag darin kein Foto, sondern ein kleiner Umschlag aus dickem Papier. Er war mit einem roten Band zusammengehalten und sah erstaunlich unzerknittert aus. Kein Absender, keine Adresse; nur vorne, in derselben geschwungenen Handschrift wie auf der Foto-Rückseite, stand:

„Manchmal führt die falsche Tür zum richtigen Anfang."

„Okay, das ist creepy-poetisch", murmelte Lina.

„Das ist philosophisch", korrigierte ihre Mutter leise.

Jonas hielt den Umschlag an einer Ecke zwischen zwei Fingern, als hätte er Angst, er würde sich in Luft auflösen. „Darf ich?"

„Du bist unser offizieller Schlüsselbeauftragter", sagte ihr Vater. „Mach schon."

Jonas löste das Band, klappte den Umschlag auf und zog etwas heraus: einen kleinen, sehr alten Schlüssel.

Er war anders als die Kalender-Schlüssel. Größer, aus dunklem Metall, an den Rändern etwas abgenutzt. Der Bart war schlicht, der Kopf dagegen kunstvoll verziert – mit einem eingravierten Stern und einem Kreis darum, in dem winzige, fast unsichtbare Buchstaben zu erkennen waren.

„Der passt definitiv in keins von den Türchen", sagte Jonas sofort. „Der ist viel zu groß."

„Sieht aus wie ein Hausschlüssel aus einem Märchen", meinte ihr Vater.

Lina nahm ihn vorsichtig entgegen und drehte ihn im Licht. Die Buchstaben in dem Kreis ergaben langsam ein Wort. Sie musste ihn ein bisschen kippen, bis es lesbar wurde.

„‚Drunter'", las sie. „D-R-U-N-T-E-R. Das steht da."

„Drunter?", wiederholte Jonas. „Drunter was?"

Jonas griff erneut in den Umschlag. „Da ist noch was."

Er zog einen zusammengefalteten Zettel hervor, der fast so dünn war wie Seidenpapier. Seine Finger zitterten leicht, als er ihn auffaltete.

In der Mitte stand, wiederum in derselben Handschrift:

„Wer wissen will, was war, muss bereit sein, unter die Oberfläche zu schauen. Unter das, worauf alle treten. Unter das, was alle für selbstverständlich halten."

Es war kein „Liebes Tagebuch"-Text, eher wie… eine Aufgabe. Eine Anleitung.

„Unter die Oberfläche", wiederholte ihre Mutter leise. „Unter das, worauf alle treten…"

Sie sah hinunter auf den Wohnzimmerboden. Das Holzparkett war alt, aber gut gepflegt. Man sah noch die Spuren, wo früher wahrscheinlich Möbel gestanden hatten.

„Unsere Füße", sagte Jonas langsam. „Unter uns."

„Unter dem Teppich?", fragte ihr Vater.

„Papa", sagte Lina. „Es ist ein Familienkalender, kein Drogenring."

„Ich hab nichts von Drogen gesagt", verteidigte er sich. „Ich dachte eher an… alte Briefe. Oder Gold."

„Unter das, worauf alle treten", wiederholte Jonas. „Das ist ziemlich eindeutig der Boden."

„Wir können doch nicht sofort anfangen, die Dielen rauszureißen", sagte ihre Mutter, obwohl man in ihren Augen sehen konnte, dass sie es kurz in Erwägung zog.

„Es muss ja nicht gleich der ganze Boden sein", sagte ihr Vater. „Vielleicht gibt's eine lose Diele."

„Oder das bezieht sich gar nicht auf dieses Zimmer", warf Jonas ein. „Was ist mit der Treppe? Treppe bedeutet, Leute treten drauf, und drunter ist ein Hohlraum."

Lina dachte an die knarzenden Stufen. An den Dachboden. An Herrn Grubers Worte: „Lasst euch nicht hetzen."

„Vielleicht ist das eine mehrteilige Sache", sagte sie. „Gestern gab's das Foto, heute den Schlüssel und den Hinweis. Vielleicht sollen wir nicht alles auf einmal lösen."

Jonas sah sie an, als hätte sie vorgeschlagen, Weihnachten auf März zu verlegen. „Wir können doch nicht einfach einen Hinweis ignorieren."

„Wir ignorieren ihn ja nicht", sagte ihre Mutter. „Wir behalten ihn. Wir denken darüber nach. Und wir schauen uns bei Gelegenheit mal die Treppe genauer an. Aber nicht heute Abend."

Lina drehte den alten Schlüssel noch einmal in der Hand. Er fühlte sich kühl und glatt an, schwerer als er aussah. Es war ein seltsames Gefühl, als würde sie etwas festhalten, das nicht ihr gehörte – und gleichzeitig irgendwie doch.

„Was, wenn…", begann sie. „Was, wenn dieser Kalender gar nicht nur so ein nettes Spiel ist? Was, wenn irgendwer wollte, dass jemand… also wir… das hier alles findet und… keine Ahnung. Fertig macht."

Ihre Mutter sah sie an. In ihrem Blick lag ein Funken Nachdenklichkeit. „Vielleicht", sagte sie langsam, „kann man eine Geschichte, die jemand nicht zu Ende erzählen konnte, später noch fertig erzählen. Nur halt anders."

„Oder man bringt damit eine Zeitbombe zum Explodieren", sagte Jonas.

„Du bist die Personifizierung von weihnachtlicher Zuversicht", meinte ihr Vater.

Sie diskutierten noch eine Weile, ob der Hinweis nun zur Treppe, zum Wohnzimmerboden oder zu etwas ganz anderem gehörte. Am Ende beschlossen sie, den alten Schlüssel nicht im Kästchen mit den Kalender-Schlüsseln zu lassen.

„Der gehört irgendwie separat", sagte ihre Mutter. „Sonst verlieren wir ihn zwischen den anderen."

Sie fand in einem der Kartons eine kleine Schale aus Keramik, in der später mal Schlüssel und Münzen landen sollten. Für den Moment war es „das Schlüsselnest", wie ihr Vater es taufte.

Der alte Metallschlüssel lag darin, leicht matt im Licht.

Das Foto von gestern hatte sie vorsichtig in die obere Schublade der Anrichte gelegt. Es war seltsam beruhigend zu wissen, dass es da lag.

Später, als Lina in ihrem Zimmer im Bett lag, hörte sie das Haus knacken. Sie kannte inzwischen das Muster: ein leises Seufzen der Dielen, wenn sich die Temperatur änderte, ein Setzen der Balken, wenn der Wind von der Seite gegen die Fassade drückte.

Ihr Handy lag neben ihr auf dem Nachttisch, ausgeschaltet. Der Akku hatte kurz nach der Schule aufgegeben. Vielleicht war es ganz gut so.

Sie dachte an Miras Spruch vom Morgen – „Vielleicht führt die falsche Tür ja manchmal in den richtigen Raum" – und musste unwillkürlich lächeln.

Sie sah zur Decke und stellte sich vor, wie unter ihr, unter ihren Füßen, irgendwo ein Stück Holz vielleicht einen Hauch lose war. Wie darunter ein Hohlraum sein könnte. Eine kleine Kiste. Briefe. Vielleicht jemandes Entschuldigungen, die nie abgeschickt worden waren.

Vielleicht nur Spinnen und Staub.

Und trotzdem… dieses Gefühl, dass etwas da war.

Unter dem, worauf alle treten.

Ein leises Knarzen direkt vor ihrer Zimmertür ließ sie zusammenfahren. Es kam von der Treppe im Flur.

Lina hielt den Atem an.

Schritte? Nein. Eher ein einzelnes Geräusch, als hätte jemand – oder etwas – vorsichtig Gewicht auf eine Stufe verlagert und dann wieder weggezogen.

„Jonas?", flüsterte sie.

Keine Antwort.

Sie lauschte noch einen Moment, aber das Haus gab nur seine normalen Geräusche von sich.

Vielleicht hatte sie es sich eingebildet.

Dennoch spürte sie ein Prickeln im Nacken.

Sie zog die Decke bis zum Kinn und zwang sich, die Augen zu schließen.

In ihrem Kopf sah sie die Reihe der kleinen Türen im Adventskalender. Hinter einer davon warteten noch zweiundzwanzig Geschichten, zweiundzwanzig Geheimnisse.

Und irgendwo zwischen ihnen, dachte sie, lag auch die Geschichte dieses Hauses.

Und vielleicht, ganz vielleicht, auch ein Stück von ihrer eigenen.

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