1. Dezember: Das Haus mit den zu vielen Geschichten

Am ersten Dezember regnete es, als wolle der Himmel Weihnachten persönlich ertränken. Lina stand im Türrahmen und hasste alles: das neue Haus, den grauen Nachmittag, die Tatsache, dass ihre Freunde gerade auf dem Weihnachtsmarkt waren – ohne sie. Ihr Handy vibrierte. Eine Story nach der anderen: Lichterketten, Glühwein (wahrscheinlich ohne Alkohol, aber trotzdem), Selfies vor dem Riesenrad.

Sie schaltete den Bildschirm aus.

„Das ist also unser Neuanfang", murmelte sie.

Hinter ihr krachte etwas gegen eine Kiste. „Aua! Jonas, pass doch auf!"

„Das war die Schwerkraft!"

Lina drehte sich um. Der Flur war ein Chaos aus Kartons, Jacken und einer Topfpalme, die aussah, als würde sie den Umzug nicht überleben. Ihr Bruder Jonas kämpfte mit einem riesigen Karton und seiner leeren Powerbank gleichzeitig.

„Vielleicht überlebst du auch mal dreißig Minuten ohne Handy."

„Wissenschaftlich nicht bewiesen", konterte Jonas.

Ihre Mutter tauchte aus der Küche auf, Haare zerzaust, Geschirrtuch über der Schulter. „Könnt ihr aufhören zu diskutieren und lieber auspacken? Wenn wir heute noch unsere Betten finden wollen—"

„Drei Kartons!", rief ihr Vater aus dem Wohnzimmer. „Wir erhöhen auf drei!"

„Papa, du hältst seit einer Stunde denselben Karton", sagte Lina.

„Strategie. Ich warte, bis der sich von selbst auspackt."

Ihre Mutter verdrehte die Augen, aber ein Lächeln zuckte über ihr Gesicht. „Lina, Schatz – könntest du oben nach einer Stehlampe suchen? Es wird gleich dunkel."

„Ich bin allergisch gegen Umzüge."

„Treppen hoch. Eine Lampe. Mehr nicht."

Lina wollte etwas Scharfes antworten, aber dann sah sie die müden Schatten unter den Augen ihrer Mutter. Die letzten Wochen waren für niemanden leicht gewesen. Nachts hatte sie die gedämpften Stimmen ihrer Eltern durch die Wand gehört, Worte wie „Neuanfang" und „wir schaffen das schon".

„Schon gut", murmelte sie.

Die Treppe knarrte bei jedem Schritt. Das Haus war alt – nicht Instagram-alt, sondern einfach alt. Abgetretene Stufen, orange Blumentapete, ein Geruch nach Staub und altem Holz.

Oben waren drei Türen und am Ende des Flurs eine schmale Treppe, die ins Dunkel führte.

Sie öffnete die erste Tür. Leer, bis auf einen Schrank und eine traurige Glühbirne. Die zweite: das Elternschlafzimmer mit einer Stehlampe, deren Kabel zu kurz war. Die dritte war ihr Zimmer – das hatte sie vorhin im Geschwisterstreit gewonnen. Groß, mit Fenster zum Garten. Ganz okay, eigentlich.

Aber dann wanderte ihr Blick zurück zur schmalen Treppe.

Dachboden.

In ihrer alten Wohnung hatte es keinen Dachboden gegeben. Nur einen Keller mit Fahrrädern und Wäscheleinen. Ein Dachboden klang nach... Geschichten. Nach Dingen, die jemand vergessen oder versteckt hatte.

„Nur kurz gucken", murmelte sie.

Die Stufen stöhnten unter ihren Schritten. Oben war es dunkel, bis auf einen schmalen Lichtstreifen durch eine Dachluke. Sie fand ein Zugband und eine Lampe flackerte auf, als müsste sie erst überlegen, ob sich das Anschalten lohnte.

Der Dachboden war größer als gedacht. Kisten, alte Möbel, ein blinder Spiegel. Und dieser Geruch – Staub, Kälte, und... Zimt?

Zimt im Dezember auf einem verlassenen Dachboden. Klar.

Ihre Schritte hinterließen Spuren im Staub. Aber da waren auch andere, ältere Abdrücke. Von den Vorbesitzern? Oder von den Leuten davor?

Ganz hinten, an der Schräge, stand eine Holztruhe mit Metallbeschlägen. Auf dem Deckel klebte ein halb abgerissener Aufkleber mit einer unlesbaren Adresse.

Der Zimtduft kam von dort.

„Okay, Lina", flüsterte sie. „Natürlich gehst du jetzt da hin."

Sie wischte über den Deckel – Staub wirbelte auf. Der Verschluss war nicht abgeschlossen. Mit einem leisen Quietschen öffnete sie die Truhe.

Der Geruch wurde stärker: Zimt, Tannenholz, Vanille. Wie ein Weihnachten, das jemand eingesperrt hatte.

Innen lag kein Gold, keine alten Briefe.

Sondern ein Adventskalender.

Aber nicht so einer aus dem Supermarkt. Das hier war ein Kunstwerk aus Holz – so groß wie ein kleiner Koffer. Aufgemalt war eine verschneite Stadt mit winzigen Häusern, einem Marktplatz, einem Kirchturm. Überall kleine Türen und Fenster, jedes mit einer Nummer von 1 bis 24. Manche Farben waren verblasst, aber insgesamt wirkte er erstaunlich gut erhalten.

Darunter lag ein kleineres Kästchen aus dunklem Holz mit einem messingfarbenen Verschluss. Auf dem Deckel stand in geschwungener Schrift:

Für später.

„Lina?" Die Stimme ihres Vaters ließ sie zusammenzucken. „Wo bist du? Paralleluniversum?"

„Dachboden! Ich hab was gefunden!"

„Nichts mitbringen, was uns nachts verfolgt!"

Sie grinste und schleppte den Kalender zur Treppe. Er war schwerer als gedacht. Auf dem Flur stieß sie fast mit Jonas zusammen.

„Woah!" Erwich zurück. „Was ist das? Ein Monster?"

„Ein Adventskalender."

Jonas' Augen leuchteten. „Der ist mega alt! Guck mal, echte Türen!"

Er streckte die Hand aus, aber Lina schlug seine Finger weg. „Finger weg, Professor Chaos."

„Wo hast du den her?"

„Dachboden. In einer Truhe. Und da war noch das hier." Sie stellte das Kästchen daneben.

Ihre Mutter kam die Treppe hoch, blieb stehen. „Oh."

Ihr Gesicht veränderte sich – nicht mehr müde, sondern berührt. „Der ist wunderschön. Wir hatten bei meiner Oma auch so einen aus Holz, aber nicht so aufwendig."

„Wir hatten Schokolade", sagte Jonas. „Null Aufwand, maximaler Gewinn."

Ihr Vater erschien mit zwei Kaffeetassen. „Geheime Lounge hier oben?"

„Antikes Weihnachts-Relikt", erklärte Jonas.

Ihr Vater pfiff leise. „Vielleicht ist der wertvoll. Dann verkaufen wir ihn und müssen nie wieder umziehen."

„Sehr komisch", sagte ihre Mutter, aber sie lächelte. „Ich frage mich, wem der gehört hat."

Lina öffnete das Kästchen.

Darin lagen 24 kleine Schlüssel.

Ordentlich nebeneinander in Samt gebettet. Jeder anders – manche schlicht, andere verschnörkelt, einige wie Miniatur-Hausschlüssel, andere wie aus einem Märchen. Auf jedem steckte ein winziges Metallplättchen mit einer Zahl. 1 bis 24.

„Wer bastelt sich 24 verschiedene Schlüssel?", staunte Jonas. „Das ist wie ein analoger Escape Room."

Lina nahm den Schlüssel mit der 1 heraus. Kalt, glatt, überraschend schwer. „Die passen bestimmt zu den Türen."

Ihr Vater sah auf die Uhr. „Fast fünf. Wir sollten uns um Abendessen kümmern."

„Und Betten", ergänzte ihre Mutter. „Aber..." Sie sah den Kalender an. „Heute ist der erste Dezember. Wäre schade, ihn nicht zu benutzen, oder?"

Jonas' Augen leuchteten. „Ja! Vielleicht ist ein Schatz drin. Oder ein Fluch."

„Du kannst nicht immer oder ein Fluch an alles dranhängen", sagte Lina, aber in ihr kribbelte es auch.

„Was, wenn er jemandem gehört?", fragte ihre Mutter.

„Die Vorbesitzer haben alles stehen gelassen", meinte ihr Vater. „Wenn der hier oben in der Truhe lag, haben sie ihn vergessen. Oder er gehört zum Haus."

„Standardausstattung: Küche, Bad, mysteriöser Adventskalender", grinste Jonas.

„Wir könnten den Makler fragen", überlegte Lina. „Oder diesen Nachbarn... Herr Gruber?"

„Der kennt das Haus schon lange", nickte ihre Mutter.

„Vielleicht war er der Schlüsselmeister", murmelte Jonas.

Ihr Vater stellte seine Tasse ab. „Vorschlag: Wir tragen das Ding ins Wohnzimmer, und heute Abend, wenn das gröbste Chaos beseitigt ist, öffnen wir zusammen die erste Tür. Familienbesinnung. Was meint ihr?"

Lina verzog das Gesicht. In ihrer alten Stadt würden ihre Freunde jetzt Stories posten – Lichterketten, Kakao, Weihnachtsmarkt. Und sie? Saß in einem knarzenden Haus in einem Dorf, das sie kaum kannte.

„Du musst nicht so gucken", sagte ihre Mutter sanft. „Ich weiß, es ist anders. Aber vielleicht tut uns ein gemeinsamer Moment gut. Zehn Minuten."

„Fünf", verhandelte Lina.

„Sieben und wir haben einen Deal. Mit Tee und Keksen."

„Welche Kekse? Die Umzugskartonsorte?"

„Spekulatius", sagte ihre Mutter. „Und ich hab ein gutes Gefühl bei dem Ding."

„Ich auch", sagte Jonas. „Im Sinne von: vielleicht passiert was Paranormales."

Lina seufzte. „Okay. Aber keine Weihnachtslieder."

„Versprochen. Ich singe nur innerlich."

Die nächsten Stunden vergingen mit Möbelrücken, Kabelsuchen und „Wo ist die Schere?!"-Rufen. Lina ordnete Bücher, schleppte Kisten, versuchte die Bluetooth-Box einzurichten – kein WLAN.

Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht in der Klassengruppe: Ein Foto vom Schulhof mit Lichterketten. „Erster Dezember, Leuteee!"

Lina starrte darauf, spürte einen Stich in der Brust, und legte das Handy mit dem Display nach unten weg.

Gegen halb acht war es draußen stockdunkel. Im Wohnzimmer brannte eine Stehlampe, auf dem Couchtisch standen vier Teetassen, Spekulatius, und mittendrin der Adventskalender. Die Familie hatte sich auf Kissen, die Couch ohne Beine und den Teppich verteilt.

„Willkommen zur offiziellen ersten Winterberg-Adventssitzung", verkündete ihr Vater.

„Sag bitte nie wieder Sitzung, wenn wir auf dem Boden hocken und Kekse essen", bat Jonas.

Lina zog die Knie an. Sie tat, als wäre ihr das alles egal, aber ihr Blick klebte am Türchen mit der 1. Jonas hatte das Kästchen mit den Schlüsseln vor sich.

„Der Schlüssel 1..." Er hielt ihn hoch wie ein heiliges Artefakt. Der Metallkopf war rund, mit einem winzigen Stern eingraviert.

„Darf ich?"

Ihre Mutter nickte. „Vorsichtig."

Jonas rückte näher an den Kalender. Alle beugten sich vor. Er setzte den Schlüssel an das Schloss von Türchen Nummer 1.

Nichts.

„Hä." Jonas runzelte die Stirn. „Der passt nicht."

„Du musst drehen", sagte ihr Vater.

„Tu ich ja. Der ist zu breit. Oder das Schloss zu klein."

„Vielleicht sind die Schlüssel vertauscht", überlegte ihre Mutter. „Versuch einen anderen."

Jonas probierte Schlüssel 2. Nichts. 3 – auch nicht. 4 – knirschte, rutschte aber nicht hinein.

Lina beugte sich vor. „Warte."

Sie nahm den Schlüssel mit der 1 und probierte andere Türchen. Beim fünften – einem schmalen Häuschen mit Balkon in der unteren linken Ecke – glitt er hinein.

Fast zu leicht.

Klick.

„Das ist nicht euer Ernst", flüsterte Jonas. „Die haben die Türchen falsch nummeriert?"

„Oder die Schlüssel", murmelte Lina. Ihr Herz klopfte schneller.

Sie drehte den Schlüssel. Wieder ein Klick. Das Türchen sprang auf.

Einen Moment lang war alles still. Selbst der Wind draußen schien zu lauschen.

„Na los", drängte Jonas.

Lina zog das Türchen auf.

Kein Schokoladenstückchen. Stattdessen ein vergilbtes Foto.

Eine Familie vor genau diesem Haus. Dem Haus Winterberg. Es sah etwas anders aus – anderes Geländer, der Garten voller Schnee – aber die Form, die Fenster, die Treppe stimmten. Drei Kinder, zwei Erwachsene, alle warm angezogen. Im Hintergrund ein Weihnachtsbaum durch das Wohnzimmerfenster.

„Das ist ein bisschen... creepy", sagte ihr Vater langsam.

„Das ist mega", flüsterte Jonas. „Zeitreise-Flair."

Lina drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand in Tinte:

„Für unsere Kinder, damit sie sich erinnern, was wirklich zählt."

Keine Namen. Kein Datum.

„Wer sind unsere Kinder?", fragte Jonas. „Die auf dem Foto? Oder... wir?"

„Vielleicht eine alte Besitzerfamilie", murmelte ihre Mutter.

„Und warum haben sie den Kalender dann hier gelassen?", fragte Lina.

Bevor jemand antworten konnte, klopfte es an der Haustür.

Dumpf. Bestimmt. Einmal. Dann noch einmal.

„Ernsthaft?", hauchte Jonas. „Jetzt flackert bestimmt das Licht."

Die Stehlampe summte kurz, blieb aber an.

Ihr Vater stand auf. „Ich geh schon."

Sie hörten Schritte, die Tür öffnete sich. Kalte Luft strich durch das Haus. Gemurmel. Dann schloss die Tür wieder.

Ihr Vater kam zurück, etwas langsamer als sonst.

„Unser Nachbar. Herr Gruber. Wollte fragen, ob die Heizung funktioniert."

„Und?", fragte ihre Mutter.

„Ja. Aber das Interessante ist..." Er ließ sich wieder auf den Teppich sinken und sah zum Kalender. „Als er den gesehen hat..."

„Was?", fragte Lina.

Ihr Vater sah sie an. „Er meinte nur: Also habt ihr ihn gefunden. Und dann hat er so... gelächelt. Komisch. Und dann hat er gesagt..." Er machte eine Pause. „Dann wird's dieses Jahr vielleicht wieder werden, wie es mal war."

Ein kalter Schauer lief Lina über den Rücken. Nicht gruselig – eher so, als wäre sie in etwas hineingeraten, das schon lange vor ihr begonnen hatte.

Sie blickte auf das Foto in ihrer Hand. Dann auf den Kalender. Den Schlüssel im fünften Türchen.

„Was immer das hier ist", sagte Jonas leise, „das ist kein normaler Adventskalender."

„Vielleicht", murmelte Lina, „findet man das raus, wenn man alle Türen öffnet."

Schweigen.

Draußen prasselte der Regen. Der Wind pfiff durch die Bäume. Aber hier drin, im warmen Licht der einen Lampe, zwischen Kartons und Kekskrümeln, rückte Lina unwillkürlich näher an Jonas.

Ihre Mutter nahm ihr das Foto ab, betrachtete es noch einmal und legte es behutsam auf den Kalender.

„Dann machen wir das so", sagte sie. „Ein Türchen pro Abend. Wie sich das gehört. Und morgen..."

„Morgen probieren wir weiter", sagte Lina.

Sie wusste nicht, warum ihr Herz dabei schneller schlug.

Aber irgendetwas sagte ihr, dass dieser Advent anders werden würde als alle davor.

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